- Literaturnobelpreis 1963: Giorgos Seferis
- Literaturnobelpreis 1963: Giorgos SeferisDer griechische Lyriker erhielt den Nobelpreis für seine hervorragende lyrische Dichtung, inspiriert von tiefem Gefühl für die hellenische Kulturwelt.Giorgos Seferis (eigentlich Giorgos Seferiadis), * Smyrna (heute Izmir, Türkei) 19.2.1900; ✝ Athen 20.9.1971; 1914 Übersiedlung nach Athen, Jurastudium in Athen und Paris, 1926 Beginn der diplomatischen Laufbahn, 1957-62 Botschafter in London. Mitbegründer der lyrischen Moderne in Griechenland.Würdigung der preisgekrönten LeistungSein letztes Gedicht schrieb der erste griechische Nobelpreisträger für Literatur im Frühjahr 1971, das sein Todesjahr werden sollte. »Auf Stechginstern« ist es betitelt und stellt sein politisches Vermächtnis dar, eine Warnung an die Vertreter der Militärjunta, die in Griechenland von 1967 bis 1974 diktatorisch regierten. Das Gedicht übertrifft an kaum verhüllter Offenheit der Botschaft alle anderen Poeme aus Seferis' Werk. Das darin beschriebene elende Ende des Pamphyliers Ardiaios aus mythischer Vorzeit ist eine ernste Warnung, die dem modernen Tyrannen Georgios Papadopulos ins Stammbuch geschrieben wird.Zwei Jahre zuvor hatte sich Seferis in einem Memorandum schon einmal gegen die Unterdrücker seines Vaterlands gewandt. In deutlichen Worten hatte er die Erstarrung gebrandmarkt, in die die Diktatur alles geistige Leben geführt hatte. Die Menschen in Griechenland hatten auf eine solche Erklärung gewartet, denn das Wort des Nobelpreisträgers hatte international Gewicht.Großes GeschichtsbewusstseinDichter und Diplomat, das sind die beiden Seiten, die die Persönlichkeit des Giorgos Seferis ausmachen. Das historische Bewusstsein, ohne das die Funktion eines Staatsrepräsentanten (im Libanon, in Albanien, in Südafrika, der Türkei und in England) nicht wirklich auszuüben war, hat inhaltlich auch seine Lyrik geformt. Dabei ist es natürlich die griechische Geschichte, die sein Denken bestimmt. Für Seferis ist jede historische Situation eingebunden in die mehr als 3000 Jahre währende Tradition griechischer Geschichte und Kultur. Dies in dem Sinn, dass die Zeugnisse aus allen Epochen dieser Kultur aktuelle Sinnbilder für Heutiges werden. Mythos und Geschichte stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander. Nicht ohne Absicht tauchen beide Begriffe im Titel der Gedichtsammlung »Mythistorema« (griechisch; Mythischer Lebensbericht) wieder auf, mit der Seferis früh schon (1935) seine poetische Reife erlangt. Reim und festes Metrum sind aufgegeben, den Rhythmus bestimmt das einzelne Wort in einer oft prosaähnlichen Wortfolge. Das wird sich auch in späteren Sammlungen wie »Logbuch« I, II und III (1940, 1945 und 1955), »Drossel« (1947) bis hin zu »Drei heimliche Gedichte« (1966) nicht mehr ändern.Es ist ein weit verbreiteter Irrtum anzunehmen, der verlorene Krieg gegen die Türkei von 1922, dem der zwangsweise Auszug der Griechen aus Kleinasien folgte und damit das Verlöschen der jahrtausendealten griechischen Kultur dort, sei das alleinig beherrschende Element in Seferis' Leben wie in seiner Dichtung gewesen. Wohl hat Seferis seine Kindheit in Smyrna (Izmir) verbracht, die Familie aber ist bereits 1914 nach Griechenland gezogen und Seferis hielt sich zum Zeitpunkt dieser »kleinasiatischen Katastrophe« als Student in Paris auf. Seferis sieht Geschichte als ein immerwährendes Drama von Schuld und Sühne. Im Kreislauf von Verstoß gegen die Weltordnung, deren Wiederherstellung und dem Erzeugen erneuter Verstrickung ist die Kleinasiatische Katastrophe für Seferis nur eine Station, wenn auch aus persönlichen und kulturgeschichtlichen Gründen eine besonders schmerzliche.Es verwundert nicht, dass bei dieser Anschauung von Geschichte das narzisstische Ich der Dichtergeneration der 1920er-Jahre in Griechenland, der Generation vor Seferis, bei ihm zu einem Wir wird, da das persönliche Drama des Einzelnen eingeflochten ist in das Drama des Ganzen. Dieser Wechsel vom Ich zum Wir setzt bereits mit Seferis' erster Gedichtsammlung ein, die bezeichnenderweise den Titel »I strofi« (griechisch; Die Wende; 1931) trägt. Seine Sprache hat nichts Verspieltes, wie es bei seinen Vorgängern häufig der Fall war. In einer dem Gegenstand angemessen strengen, im Äußeren vergleichsweise einfachen Sprache, die aber keineswegs immer einfach zu erschließen ist, stellen sich seine Gedichte vor.Das Lesevergnügen ist denn auch ein intellektuelles. Seferis' Gedichte sind eher kurz und es wird sich kein Wort finden, das überflüssig wäre. Seine Poeme gleichen Skulpturen, die dem Betrachter Gelegenheit geben, die Details in Gedanken selbst zu ergänzen. Nur die Richtung wird aufgezeigt, dies aber niemals in belehrendem Ton.Das Sich-behutsam-den-Dingen-Annähern, nicht das Besetzen und Besitzergreifen ist die von Seferis als angemessen angesehene Arbeitsweise. »Angiso«, das tastende Berühren, ist geradezu ein Schlüsselwort, das er immer wieder gebraucht. So zum Beispiel in dem herausragenden Gedicht »Der König von Asine«, wo die Spurensuche nach dem sagenhaften Fürsten, den Homer in seiner »Ilias« nicht einmal mit einem halben Vers als einen der Teilnehmer am Feldzug der Griechen gegen Troja erwähnt, sinnbildlich zu einer Suche nach der Sicherheit der eigenen Existenz wird. Zugleich stellt dieses Berühren von Stein, Erde oder gar einer erhalten gebliebenen Maske die direkte Brücke zwischen dem Jetzt und der Antike dar, von deren Funktion anfangs die Rede war. Die Antike stellt ein unverzichtbares Element in Seferis' Leben dar.Internationale AnerkennungDer amerikanische Schriftsteller Henry Miller, der einige Male mit Seferis zusammengetroffen ist, sagt in seinem 1940 entstandenen Reisebericht »Der Koloss von Maroussi«: »[Seferis] stellt unzählige Fragen in einer polyglotten Sprache, er interessiert sich für alle Formen kulturellen Ausdrucks und sucht das zu abstrahieren und zu assimilieren, was echt und befruchtend in allen Epochen gewesen ist.« Das ist es, was Seferis ausmacht: sein interkulturelles Interesse, sein Blick über die Grenzen des von ihm so geliebten Vaterlands hinweg. Was er wahrnimmt, was er für den Menschen als mitteilungswürdig erachtet, dem wird er immer mit der großzügigen Hilfe der eigenen griechischen kulturellen Tradition Ausdruck verleihen.Mit dem Nobelpreis wurde eine in diesem Sinne internationale Persönlichkeit für ein lyrisches Werk geehrt, das unter dem Titel »Gedichte« (deutsch 1962) immer wieder neu aufgelegt wurde, das nicht sehr umfangreich, dafür aber von besonderem Gewicht ist. Vervollständigt wird Seferis' Werk durch literaturtheoretische und -historische Essays (»Versuche«; 1973, »Alles voller Götter«; 1989), Tagebücher, Übersetzungen (zum Beispiel die Johannesapokalypse) und ein früh verfasstes, aber spät erschienenes Prosastück, »Sechs Nächte auf der Akropolis« (1966).Nachdem über Jahrzehnte allenfalls der Romancier Nikos Kasantzakis im westeuropäischen Bewusstsein als Beispiel neugriechischer Literatur existierte, wurde mit der Nobelpreisverleihung zum ersten Mal der Blick auch auf die neugriechische Dichtung gelenkt.G. Emrich
Universal-Lexikon. 2012.